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Llaura I. Sünners zeit- und kulturübergreifende Artefakte des Alltags

Geräusche von Metall auf Holz, ein Hämmern, Knirschen und Klopfen, rufen die aktuellen skulpturalen Gerätschaften von Llaura I. Sünner in der Vorstellung des Betrachters hervor. Im visuellen Zusammenklang mit den gemalten Waldstücken von Jens Rausch deuten die Figurationen von geschwungenen Axtköpfen und Handsägen der Künstlerin auf eine spannungsvolle Kultur-Natur-Dichotomie: Hier treffen die vom Menschen konzipierten Mittel der Weltaneignung, –erschließung und –gestaltung auf die natürliche Landschaft, prallt humaner Kultivierungswille auf Wildwuchs, trifft Beil – potenziell – auf Baum. Arbeitsspuren, Zeichen der Alterung und des Gebrauchs sind Sünners rostbraun-patinierten Filzobjekten eingeschrieben. Die generischen Werkzeuge, die partiell auf japanische Vorbilder zurückgehen, in ähnlicher Form jedoch seit Urzeiten kulturübergreifend Verwendung finden, sind in ihrer textilen Manifestation zugleich konkret und abstrakt, hart und weich, präzise und organisch. Die Scharfkantigkeit der Axtklingen und Sägeblätter trügt; die Patina hat keine temporalen Ursachen, sondern ist das Ergebnis eines gezielten Versengungsprozesses; die Form ist ihrer Funktion enthoben. Und der Gegenstand weist als Träger von Gegensätzen über sich selbst hinaus auf den Dualismus zwischen Dauer und Vergänglichkeit, Geschichte und Gegenwart, zweckgebundenem Gebrauchsobjekt und offenem Kunstwerk.

Seit Mitte der 1990er Jahre arbeitet Llaura I. Sünner mit dem archaischen, durch Joseph Beuys energetisch-ästhetisch aufgeladenen und mit der Arte Povera der 1960er und 1970er Jahre künstlerisch einverleibten Alltagsmaterial Filz. Es kommt weltweit in verschiedensten geografischen Gebieten und technischen Zusammenhängen – vom Jurtebau Asiens über diverse Industriezweige bis zum Wohn- und Hobby-Bedarf des Westens – zum Einsatz und ist trotz optisch reduzierter, gleichsam neutraler Anmutung vielschichtig besetzt. Darin liegt auch der besondere Reiz dieses Werkstoffs für die Künstlerin, dessen Labilität und Leichtigkeit selbst den schwersten, robustesten Gegenstand spielerisch subvertiert und ad absurdum führt. In ihren textilen Nachbildungen geht es nach Sünners Auskunft „nie um das Ding an sich“, sondern um dessen „Idee“. Ganze Balkone, Wendeltreppen und Leitern hat sie aus Filz geschaffen, sowohl in verkleinertem oder vergrößertem Maßstab und in Originalgröße. Deren Plattformen, Stufen und Sprossen lassen sich nur in der Imagination betreten und bieten tatsächlich keinen Halt. Der massiv wirkende Motor, den die Künstlerin aus grauem Filz maßstabsgetreu kreierte (2014 für den August Horch Raum im Museum Winningen entstanden), und ihre textilen Ambosse sind fast schwerelos. Desgleichen sind ihre Sägen und Axtköpfe außerstande, irgendeine Fläche zu zerschneiden. Die Möglichkeit des Zusammenfallens, Einbrechens und Abknickens ist ihren Skulpturen als bewusst einkalkuliertes, zwischen Tragik und Komik changierendes Scheitern eingebaut: Es geht um eine Entfunktionialisierung zugunsten einer Emblematisierung der Sujets, in deren Verlauf diese in räumliche Bilder verwandelt werden, die oft zudem tonale Assoziationen wecken.

Neben einer grundsätzlichen Dekontextualisierung sind durchgängige Strategien der Verfremdung und Transformation die Maßstabsveränderung und Fragmentierung des Ausgangsgegenstandes sowie die Sichtbarmachung von dessen technischer Anatomie. Die Bruchstücke lassen nicht immer auf das Ganze schließen. Durch Vergrößerung und Zerteilung erscheint etwas grundsätzlich Bekanntes bisweilen unvertraut. Die ästhetische Verschiebung lässt das Alltägliche, in Sigmund Freuds Diktion, unheimlich erscheinen – surreal wie ein Traumgebilde aus Alice im Wunderland. Llaura I. Sünner wandelt das Mondäne ins Märchenhafte, indem sie es in die ständig erweiterbare Wunderkammer ihrer künstlerischen Aneignungen und Wandlungen aufnimmt. Ein besonderes Augenmerk liegt in ihrem Werk auf Objekten, die auf irgendeine Weise Klang erzeugen: Zahnräder, Maschinen, Metronome, Megafone, Trillerpfeifen, musikalische Instrumente. Letztere bilden eine Gruppe, die unter dem Oberbegriff Stillleben zwischen 2008 und 2011 Gestalt annahm. Die Serie umfasst komplette Instrumente, Geige und Bogen, Flöten in allen Variationen, aber auch Seitenklappen und Mundstücke, Trommel- und Spiralfederdruckwerke, die Mechanik von Klarinetten und Trompeten. Weitgehend in der Farbe Weiß gehalten, die deren skulpturale Eigenschaft unterstreicht, strahlen die Figurationen eine besondere Ruhe aus. Es sind buchstäbliche Still-Leben, denen die klangerzeugen

In den vergangenen Jahren sind Mahlwerke und Spindelpressen, Sammlungen von „Halbzeug“ wie Schrauben, Flügelmuttern und Gewinde hinzugekommen. Die skulpturalen Fassungen verfügen über sämtliche Details, die den Originalapparaturen eigen sind: Sie lassen sich kurbeln und drehen, und laden ein zum haptischen Erleben, das freilich vom pragmatischen Resultat her ins Leere läuft beziehungsweise in andere, weniger festgelegte Bahnen katapultiert wird. Sünners Kunst-Maschinen und -Objekte, deren jeweilige Farbgebung – von Grau, Weiß und Grün bis Senfgelb und Rot – deren Deutung mitprägt, entspringen oft den Sphären der Technik, der Tonerzeugung oder – wie im Fall der nautischen Geräte und (astro-)physikalischen Modelle aus jüngster Zeit – der Vermessung und Erforschung. Ein wesentliches Moment, das die verschiedenen Schwerpunkte im Werk der Künstlerin verbindet, ist der Bezug zu Gestaltungsformen, Instrumenten, Vorrichtungen, Werkzeugen, die nicht nur in den Tiefen der Menschheitsgeschichte verwurzelt sind, sondern über alle Kulturen unserer Erde hinweg in Umlauf sind. Die „Idee“ der Gegenstände, die Llaura I. Sünner in ihren Skulpturen freisetzt, enthält auch die universale Botschaft einer weit gefassten, grenzüberschreitenden, zeitlichen, anthropologischen, formalästhetischen Kontinuität, aus der alles Neue hervorgeht und in der die kollektive(n) Geschichte(n) unseres menschlichen Lebens dauerhaft eingewoben sind.

Belinda Grace Gardner


Das Eigentliche ist das Verborgene – oder: Die Fügung von Ding und Welt aus dem Un-Fug

„Es hat eine Zeit gegeben, in der ich durch mich selbst von meinem
Leben überzeugt war. Ich erfasse nämlich die Dinge um mich nur
in so hinfälligen Vorstellungen, daß ich immer glaube, die Dinge
hätten einmal gelebt, jetzt aber seien sie versinkend. Immer, lieber
Herr, habe ich eine Lust, die Dinge so zu sehen, wie sie sich geben
mögen, ehe sie sich mir zeigen. Sie sind da wohl schön und ruhig….“

Franz Kafka, Gespräch mit dem Beter

„Die Zweideutigkeit aber ist kein Zufall. Deutlichkeit bezeichnet den
Indifferenzpunkt von objektiver Vernunft und Kommunikation.“

Theodor W. Adorno, Intention und Abbild

„Höre auf den Klang der einen Hand…“

Zen-Buddhistisches Koan

Nähert sich der Betrachter den in weichem Filz gearbeiteten Objekten und Werken der
Künstlerin Llaura I. Sünner, so müßte er in mehrfacher Weise irritiert sein, denn alle in die raumbezogenen Installationen eingearbeiteten Dinge, Geräte, Apparate und Instrumente erscheinen merkwürdig bekannt und unbekannt zugleich: die eigene Wahrnehmung und Erinnerung läßt zunächst die Ge-Bilde in einem funktionalisierten Anwendungs-Kontext als Geräte und Instrumente zur Bearbeitung von sichtbarer Materie erscheinen. Im nächsten Schritt der Wahrnehmung, bei der genaueren Begutachtung, gerät die Wahrnehmung einer physischen und physikalischen Realität ins Schwanken und Wanken, denn die Dinge selbst scheinen nicht mehr zu sein, was sie vorgegeben haben und erscheinen transformiert in eine psychische und unsichtbare Realität, die parallel zur physikalischen erscheint. Damit öffnet sich eine erweiterte Erkenntnis über die Tatsachenesoterik der scheinbar objektiv gegebenen Realität. Nicht nur, das Zeichen, Bezeichnetes und Bezeichnendes (wie in den Zeichentheorien seit Saussure bekannt) auseinanderfallen, sondern auch die Dinge selbst verweisen auf eine subjektive Sinnlichkeit und Geschichtlichkeit.

Es war der sowjet-russische Dichter und Denker Sergej Tretjakov, der in seinen der Arbeit der Schriftsteller und Künstler gewidmeten Essays in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts eine doppeldeutige Les-Art zuwies: „Die Biografie des Dings hat ein ganz außerordentliches Aufnahmevermögen für die Einbeziehung des menschlichen Materials.“ Damit war nicht nur die
subjektive, physische und psychische Aneignung von Material zur Weiter-be- und verarbeitung angesprochen, sondern auch eine Pforte zur Wahrnehmung (Aldous Huxley) subjektiver Sinnlichkeit und Geschichtlichkeit sogar innerhalb einer materialistischen Geschichtsschreibung geöffnet: Das Beharren auf dem Unsichtbaren und Unmöglichen wurde ein Kriterium gelungener sozialer Kommunikation zwischen Kunstwerk-Künstler und Betrachter und die scheinbar nur objektiven Kriterien von Wahrnehmung und Beurteilung wurden in Frage gestellt. Wider das reduzierende und reduzierte Konzept von Aufklärung konnte künstlerische Reflektion auch das sein, was einem Tatsachensinn zwischen Realismus und Idealismus sich bewußt entzieht.

Die Erweiterung des Wahrnehmungs- und Kunstbegriffes erforderte den ‚Kalten Blick‘ (Marcus Steinweg über Heiner Müller, Politik des Subjekts, 2009) zur Wahrnehmung einer anderen Realität aus der Sicht der Verschwisterung von Kunst und Philosophie: „In der Kunst, wie in der Philosophie geht es darum, sich dem Irrealitätsstatus der Realität zu öffnen und zu wissen, dass diese Öffnung eine Bejahung einschließt, die der Bewertung vorausgeht und letztlich entweicht.
Kunst und Philosophie sind Affirmationen, die alles – die Schönheit wie die Grausamkeit und Indifferenz des Lebens, der Welt aufnehmen müssen. Nie geht es darum, für oder gegen etwas zu sein. Nie primär. Kunst und Philosophie verbindet die Weigerung, ihren Realitätskontakt durch Wertungen zu neutralisieren. Es ist klar, dass diese Weigerung einen gewissen Mut verlangt.“

Es ist dieser bewußt gewählte Katastrophismus als künstlerische Strategie, der sich einem Blindflug in Zwischen-räumen und -reichen einer Dynamik überläßt, die ins Abenteuerliche und Unbekannte führen kann. Die Fügung von Ding und Welt aus dem Unfug – dem Un-gefügten als einem Weg ins innerliche und real-phantastische zugleich, wird aus diesem Bewußtsein heraus zur künstlerischen Methode und Strategie der sich – für diese Ausstellung in der Trittauer Mühle als Arbeits- und Ausstellungsort – selbst als „BETRIEBSSCHWESTER“ in Betrieb und Getriebe der Produktionsmittel bezeichnenden Künstlerin. Im Dazwischen-Sein (lat.: inter esse) der scheinbar objektiven Geräte, Apparate und Instrumente schaut sich Llaura I. Sünner parallel in sich selbst um, und erfüllt damit eine Forderung der deutschen Romantiker seit Caspar David Friedrich und Phillip Otto Runge: „…Die Kunst ist ja nur ein Instrument: wie kann denn ein Instrument der Zweck sein?“, formulierte Runge 1803.

Es sind die Töne und Zwischentöne in den Rissen, Lücken und (Soll-)Bruchstellen, in der nur vermeintlich objektiv bestimmbaren Wirklichkeit in den Grenzen einer alles funktionalisierenden,
einseitig technoid-ökonomisch gefaßten Wirklichkeit, die im Werkgeräusch von Schraube, Mutter und Instrument den Ton in der „Imitations-Werk-Stadt“ erzeugen:

„Sinneswahrnehmung findet allein statt…//…Das Hören im Dunkeln, ohne Ablenkung// …Akkustik ohne Geräusch// Materielos// Das innere Auge sieht Musik. Ich mache optische Musik// Optisch dargestellter Ton in weichem Material//…weiiit zu hören (Wal)…Variation der Töne = Musik“, schreibt die „Betriebsschwester“ als filzig-weiche ‚Mutter‘ im Getriebe: es ist also die Kunst der Un-Fuge, bei der die Musik zwischen den Räumen und Tönen entsteht „im kleinen Mahlwerk“ auf einer „Insel der wohlklingenden, doppeldeutigen Inhalte“.
Zwischen Romantik, Sur-Realismus und ‚pataphysischer Wissenschaft imaginärer Lösungen, sind dann mit Theodor W. Adorno ‚wahr nur die Gedanken, die sich selbst nicht verstehen‘: das Eigentliche bleibt verborgen, unsichtbar, auch als ein Denken gegen sich selbst, dass einzig Anspruch hat, das nur scheinbar gefügte im ungefügten erst sich offenbaren zu lassen.


Gunnar F. Gerlach